Wohlstandssicherung als Ziel
Stuttgart. Die rasche Einführung von Informatik als Pflichtfach in den Schulen fordert eine Gruppe von Unternehmern, Professoren und Vertretern von Wirtschaft. In einer Stellungnahme, die an das Kultusministerium Baden-Württemberg adressiert ist, sehen sie bei weiterer stiefmütterlicher Behandlung der Lerndisziplin Informatik den Wohlstand des Landes gefährdet.
Die Initiative geht von dem Brackenheimer Technologieunternehmer Franz Eduard Gruber, Gründer der Forcam GmbH, Prof. Dr. Michael Resch, Uni Stuttgart, der Industrie- und Handelskammer (Heilbronn-Franken und Bodensee-Oberschwaben), dem BVMW – Bundesverband mittelständische Wirtschaft, dem Philologenverband PhV BW, sowie dem
ILLBW – Verband der Informatiklehrerinnen und -lehrer in Baden-Württemberg aus. Die Fachleute sehen in der jahrzehntelangen Vernachlässigung der Wissensvermittlung auf dem Gebiet der Digitalisierung eine der wesentlichen Ursachen für den sich abzeichnenden internationalen Wettbewerbsverlust der deutschen Wirtschaft und dem damit einhergehenden Wohlstandsverlust für die Bürger.
So habe man die technische Führung in der Paradedisziplin Automobil bereits verspielt, argumentieren die Verfasser der Expertise. Deutsche Elektroautos drohten nach aktuellen Erkenntnissen in China zu scheitern, aktuelle Zahlen zeigten die Dramatik der Lage. Im größten Pkw-Markt der Welt stocke die Stromoffensive der deutschen Hersteller. Die Verkaufszahlen von Porsche Taycan, Mercedes EQS und AUDI E-Tron entsprächen nicht den Erwartungen der Hersteller. Einer der Hauptgründe sei: Auf dem chinesischen Markt spielten digitale Funktionen eine wichtige Rolle. Dazu zählen beispielsweise ausgereifte Sprachassistenten und die Vernetzung des Fahrzeugs mit Internetdiensten. Hier hapere es bei vielen deutschen Herstellern, urteilen die Experten.
In anderen Bereichen sehe es nicht besser aus: Deutschland belege unter den EU-Ländern nur Platz 18 bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Die Umsetzung des Onlinezugangsgesetz (OZG) aus dem Jahr 2017 müsse inzwischen als gescheitert angesehen werden.
Dieser Rückstand sei das Ergebnis einer jahrzehntelangen Vernachlässigung der Digitalisierung in der schulischen Ausbildung. Computer zu beherrschen, statt nur zu bedienen, stehe als kognitive Grunderfahrung auf einer Stufe mit dem Erwerb einer Fremdsprache, dem Kennenlernen der Naturgesetze oder der Wahrnehmung politischer Teilhabe.
Die aktuelle Hilflosigkeit führe in eine digitale Unmündigkeit. Wer Informatik nicht beherrsche, könne zwar die Systeme nutzen, die andere entwerfen und bewirtschaften, aber nicht hinterfragen und schon gar nicht an eigene Bedürfnisse anpassen.
Dabei könne die Haltung von Bürgern zur Informationstechnik durchaus von Skepsis, Kritik oder sogar Ablehnung geprägt sein. Um aber eine kritische Haltung überhaupt vertreten zu können, müsse man etwas von der Sache verstehen, sagen die Fachleute.
Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, fordern die Experten deshalb ein durchgehendes, verpflichtendes Schulfach Informatik von Klasse 5 bis 10.
Der Philologenverband sieht in der Rückkehr zu G9 an allgemeinbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg die Möglichkeit, den notwendigen Raum in der Stundentafel dafür zu schaffen. Das Fach Informatik müsse mit qualifizierten Lehrkräften, einem durchdachten Bildungsplan sowie ausreichender Zeit in der Schule ausgestattet werden. Seine wichtigste Aufgabe müsse die „Entmystifizierung der digitalen Welt“ sein, so wie Biologie, Physik und Chemie jeweils einen Teil unserer Welt erklärten.
Die Fragen lägen auf der Hand: Wie merkt sich Facebook alle meine Daten? Wie funktioniert KI? Was ist ChatGPT? Man benötige dringend eine „kritische Digitalkompetenz“.
Neben der digitalen Mündigkeit sprächen auch die Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt für ein Pflichtfach. Im Jahr 2040 seien nach heutigem Kenntnisstand Berufe wie Bankberater oder Taxifahrer gefährdet, wenn nicht gar ganz verschwunden. Auch höchst anspruchsvolle Tätigkeiten in der Radiologie würden sich bald automatisieren und rationalisieren lassen. IT-Fachkräfte hingegen würden verzweifelt gesucht, allein in Deutschland würden Hunderttausende Informatiker fehlen. Der Mangel hemme das Wachstum ganzer Branchen und stelle Deutschland als Innovationsstandort in Frage.
Die Initiative wurde gestartet, um im Dialog mit dem Kultusministerium die Einführung der Informatik als Pflichtfach in allgemeinbildenden Gymnasien voranzutreiben.