Strukturbericht sieht in Fachkräftesicherung, Infrastruktur und Bürokratieabbau die größten Herausforderungen
Die Region Stuttgart ist wirtschaftlich nach wie vor stark und innovativ. Damit das so bleibt, müssen jetzt die richtigen Weichen gestellt werden. Das ist das Ergebnis des aktuellen Strukturberichts, den die vier Herausgeber – Verband Region Stuttgart, IG-Metall, Industrie- und Handelskammer und die Handwerkskammer Region Stuttgart – heute vorgestellt haben. Die beiden Institute IAW und IMU analysieren im zweijährigen Rhythmus die Wirtschaftsstruktur der Region und zeigen aktuelle Entwicklungen auf.
„Die Region hat beste Chancen, die Herausforderungen der Digitalisierung und der Dekarbonisierung zu schaffen“, sind sich die Herausgeber einig. „Denn sie profitiert von ihrem besonderen Charakter der Zusammenarbeit und den herausragenden Netzwerken.“ Der aktuelle Bericht untersucht vor dem Hintergrund der zahlreichen Krisen der vergangenen Jahre vor allem die
Faktoren, die die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft maßgeblich beeinflussen. Dazu gehören der massive Arbeits- und Fachkräfteengpass, der Arbeits- und Ausbildungsmarkt, das Innovationsgeschehen, die Entwicklung bei Gewerbe- und Wohnflächen sowie der Infrastruktur, aber auch der dringend erforderliche Abbau von Bürokratie. Für die Herausgeber ist klar: „Die Resilienz der Region hängt entscheidend davon ab, wie wir diese Krisen bewältigen können. Neben den Herausforderungen bringt die Transformation der Wirtschaft auch große Chancen für die hiesigen Unternehmen mit sich.“
Fachkräftemangel als größtes Risiko
Fehlende Fach- und Arbeitskräfte sind laut Strukturbericht ein zentraler Risikofaktor für den Standort Region Stuttgart. Die Entwicklung zeichnet sich seit vielen Jahren ab. Eine höhere Erwerbsquote und ein schnellerer Wiedereinstieg von Frauen nach der Eltern- oder Pflegezeit würde durch bessere Angebote der Kinderbetreuung aber auch bessere Pflegeangebote erleichtert. Ohne Zuwanderung werden dem Arbeitsmarkt künftig demografisch bedingt die Arbeitskräfte fehlen. „Damit Fachkräfte aus dem Ausland schnell und in ausreichend großer Zahl nach Deutschland kommen, müssen die Möglichkeiten des reformierten Fachkräfteeinwanderungsgesetzes nun rasch und unbürokratisch genutzt werden. Dringender Handlungsbedarf besteht bei der Schaffung leistungsfähiger Verwaltungsstrukturen vor Ort, die serviceorientiert ausländische Fachkräfte und Betriebe unterstützen. Der Aufholbedarf bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist enorm, das hat uns schon die Corona-Pandemie vor Augen geführt. Effizienteres Verwaltungshandeln ist notwendig, um in künftigen Krisensituationen resilienter sein“, betont Peter Friedrich, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Region Stuttgart.
Stellschraube Aus- und Weiterbildung
Lebenslanges Lernen ist und bleibt eine der wichtigsten Stellschrauben für den Arbeitsmarkt der Zukunft. Dazu gehört auch der Erwerb breiter Kompetenzen, die schon heute die zukünftigen Anforderungen an Arbeits- und Geschäftsabläufe berücksichtigen. Der Übergang Schule – Beruf muss erleichtert werden. Schwächere Jugendliche können beim Einstieg ins Berufsleben zum Beispiel durch eine Einstiegsqualifizierung unterstützt werden. Wichtig ist auch die Durchlässigkeit und Verzahnung von Bildungswegen etwa durch berufsqualifizierende Angebote für Studienabbrechende in eine Ausbildung oder in ein Duales Studium. „Fachkräftesicherung im Zeichen von Demografischem Wandel und Transformation bedarf Aus- und Weiterbildung“, sagt Nadine Boguslawski, Erste Bevollmächtigte der IG Metall Stuttgart. „Wir sehen, dass Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können, Betriebe weniger ausbilden und die Babyboomer-Generation dem Arbeitsmarkt bald nicht mehr zur Verfügung stehen wird. Deshalb muss noch stärker in Aus- und Weiterbildung bzw. die strategische Personalplanung investiert werden. Nur mit gut aus- und weitergebildeten Beschäftigten kann die Transformation gelingen.“
Führend als Innovationsregion
Die Region Stuttgart ist die führende Innovationsregion in Baden-Württemberg und weit darüber hinaus. Ein großer Teil dieser Innovationskraft kommt aus der privaten Wirtschaft, vor allem dem Automotivbereich und der Produktionstechnik. Die Region verfügt über gute Voraussetzungen, um in Zukunftstechnologien zu investieren, etwa in den Bereichen Umwelt und Energie, nachhaltiges Bauen, KI und Quantentechnologien oder in der Medizintechnik. In diesen Themen müssen bestehende Initiativen und Projekte für Unternehmen, Start-ups und Beschäftigte ausgebaut und um neue ergänzt werden. Dann sehen die Herausgeber gute Chancen, dass Anwendungsmöglichkeiten und Potenziale in neuen Geschäftsfeldern und Märkten ergriffen werden können.
Dr. Alexander Lahl, Regionaldirektor Verband Region Stuttgart: „Die Region Stuttgart hat durch den Breitbandausbau schon frühzeitig enorm wichtige Weichenstellungen vorgenommen, wovon wir jetzt und in Zukunft profitieren. Doch die Industrie 4.0 treibt weltweit einen radikalen Umbruch voran. Verstärkt wird das Ganze durch den demografischen Wandel. Der demografische Wandel muss zum Digitalisierungs- und Automatisierungstreiber werden! Die 2020er-Jahre zum digitalen Jahrzehnt! Wir müssen raus aus angestammten Positionen und Denkmustern und neue Wege einschlagen. Diese können und müssen evtl. sogar unkonventionell sein.“
Flächen als Voraussetzung für Resilienz der Region
Die Verfügbarkeit von Flächen für Wohnen und Gewerbe ist eine der zentralen und entscheidenden Voraussetzungen für die Resilienz der Region. Ohne verfügbaren Wohnraum leidet trotz guter Beschäftigungschancen die Attraktivität der Region als Arbeitsort und der Fachkräftemangel kann nicht beseitigt werden. Gleichzeitig brauchen die Unternehmen in der Region Entwicklungs-möglichkeiten durch neu nutzbare Industrie- und Gewerbeflächen. Diese können auch durch Umstrukturierungen in Bestandsgewerbegebieten entstehen. Der Strukturbericht zeigt deutlich die Wirtschaftsstruktur der Region als Dienstleistungswirtschaft um einen industriellen Kern. Damit ergeben sich entsprechende Anforderungen an die Standortqualität wie stabile, bezahlbare Energieversorgung, Mobilität und Flächen. „Wir dürfen nicht ausblenden, dass die Industrie hier in der Region eine zentrale Rolle spielt, und ohne Industrie verlieren wir ganze Wertschöpfungsketten bis in die Dienstleistungsbranchen hinein“, so Nadine Boguslawski. „Ohne zusätzliche Gewerbeflächen drohen Standortverlagerung und damit einhergehende Arbeitsplatzverluste. Gleichzeitig braucht es bezahlbaren Wohnraum für unsere Fachkräfte. Wir müssen es insbesondere den niedrigen und mittleren Einkommensgruppen ermöglichen, in der Region Stuttgart gut zu leben. Zusätzliche Wohn- und Gewerbeflächen sind somit maßgeblich für den wirtschaftlichen Erfolg der Region Stuttgart.“
Bürokratiebelastung verstärkt Standortverlagerungen
In zahlreichen Interviews mit Expertinnen und Experten wurde die Bürokratiebelastung als massives Investitionshemmnis für den Standort genannt. Die Herausgeber des Strukturberichts betonen in ihren Handlungsempfehlungen, dass die hierdurch die Verlagerungstendenzen der Unternehmen verstärkt würden. Kurzfristige Chancen bestünden in einer stärkeren Ausnutzung von Ermessensspielräumen zum Beispiel im Baurecht oder im Verzicht auf zu enge und detaillierte Verwaltungsvorschriften. Grundsätzlich sollten Gesetze schärfer und verbindlicher auf die Belastungen für Bürger und Wirtschaft überprüft werden. Mit der Neubesetzung des Normenkontrollrates Baden-Württemberg besteht die Chance, Bürokratiebelastung zu identifizieren und schlagkräftig zu bekämpfen, wenn die Politik mitspielt. IHK-Präsident Claus Paal: „Die Qualität des Standortes leidet massiv unter den vielen bürokratischen Prozessen, der fehlenden Digitalisierung in der Verwaltung und einem Wirrwarr an Zuständigkeiten. Wir schaffen es nicht mal mehr, die zentralen politischen Ziele der Energiewende, der Fachkräftezuwanderung und dem Wohnungsbau umzusetzen, weil vor Ort die Voraussetzungen hierfür fehlen. Die Politik muss handeln und Tempo machen beim Bürokratieabbau, bevor die Unternehmen endgültig den langen Atem verlieren und ihre Standorte verlagern.“
Der Strukturbericht für die Region Stuttgart erscheint seit 1995 und ist ein in Deutschland einmaliges Projekt bedeutender regionaler Organisationen – Verband Region Stuttgart, Handwerkskammer Region Stuttgart, IG Metall Region Stuttgart und IHK Region Stuttgart – mit dem Ziel, den Wirtschaftsstandort nachhaltig zu stärken, seine Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit zu erhalten und damit Beschäftigung sowie Wohlstand zu sichern.