Wenn der Rollator das Auto kommandiert

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Forscher vernetzen Hilfsmittel, Fahrzeuge und Gebäude zu Assistenzsystem für Mobilität 

MÜNCHEN. Mobil zu bleiben, fällt vielen älteren Menschen schwer: Der Weg vom Haus zum Bus ist zu weit oder die Unsicherheit über ihren Gesundheitszustand schreckt sie ab. Wissenschaftler und Unternehmen entwickeln nun ein Assistenzsystem, das Haustechnik, Hilfsmittel wie Rollatoren, speziell ausgerüstete Car-Sharing-Autos und öffentliche Verkehrsmittel miteinander verbindet. Darüber hinaus soll ein „Healthphone“ Gesundheitsdaten auswerten, Empfehlungen für die passende Mobilitätsform geben und notfalls Kontakt zu Hilfsdiensten herstellen. Bundesforschungsministerin Annette Schavan hat gestern in Berlin eine Förderzusage über rund zwei Millionen Euro für das von der Technischen Universität München (TUM) und der Firma Citysax koordinierte Projekt „PASSAge“ übergeben.

Wie soll ich mit meinem Rollator zur Bushaltestelle am anderen Ende des Dorfes gelangen? Was passiert, wenn ich wieder an der falschen Haltestelle aussteige? Sollte ich mich angesichts meiner Blutdruckwerte überhaupt auf die Treppe zur Haustür wagen? Für Menschen, die sich nur noch eingeschränkt bewegen können, stellen sich solche Fragen täglich. Aus Unsicherheit schrecken sie im Zweifel davor zurück, ihre Wohnung zu verlassen. Zwar gibt es inzwischen eine Menge Erleichterungen vom Treppenlift bis zum barrierefreien Einstieg in öffentliche Verkehrsmittel. Doch beweglich und damit auch fitter zu bleiben, scheitert oft daran, dass ein problemloser Wechsel vom einen Fortbewegungsmittel zum anderen nicht möglich ist.

Diese Lücken soll das Projekt „Personalisierte Mobilität, Assistenz und Service Systeme in einer alternden Gesellschaft (PASSAge)“ nun schließen. „Mit der neuen sozio-technischen Infrastruktur wollen wir eine nahtlose Mobilitätskette schaffen, um ein selbstständiges Leben bis ins hohe Alter zu ermöglichen“, sagt Projektkoordinator Prof. Thomas Bock vom TUM-Lehrstuhl für Baurealisierung und Baurobotik.

Einsatzbereit sein soll künftig eine Flotte von Kleinstwagen, die mit verschiedenen Funktionen auf hilfsbedürftige Nutzer eingestellt ist. „Ein Rollstuhlfahrer könnte zum Beispiel in seinem Stuhl vom Auto aufgenommen werden“, erklärt Bock. „Der Rollstuhl würde dann im Wagen arretiert werden, der Fahrer müsste gar nicht aufstehen.“ Da eine Umrüstung des eigenen Autos sehr teuer wäre, planen die Forscher ein Car-Sharing-System. Auch der Rollstuhl selbst könnte flexibler werden, indem er etwa im Supermarkt die Sitzhöhe den Regalen anpasst.

Die Mobilität erleichtern soll zudem die Vernetzung der einzelnen Fortbewegungsmittel untereinander und mit neuen Assistenzmodulen der Wohnung. „Vom Rollator aus könnte man dann die Auto- und die Haustür öffnen lassen oder einzelne Möbel steuern, wie beispielsweise höhenverstellbare Schränke“, sagt Prof. Matthias Kranz vom TUM-Fachgebiet Verteilte Multimodale Informationsverarbeitung. „Bedienen können die Nutzer diese Funktionen über ein Smartphone, das als Zentrale mit allen Elementen des Systems in Verbindung steht, Daten austauscht und verarbeitet.“

Vorteile für Menschen auf dem Land
Gleichzeitig wird das Smartphone zum „Healthphone“. In den verschiedenen Hilfsmitteln und Fahrzeugen werden die Forscher Biosensoren installieren, die Gesundheitsdaten wie Blutdruck, Blutzucker oder Atemfrequenz messen und langfristig auswerten. Über das Gesundheitstelefon bekommen die Nutzer dann Tipps, wie und womit sie sich bewegen sollten. „Bei leicht erhöhten Blutzuckerwerten könnte das System dazu raten, ein paar Schritte mehr zu laufen – oder bei sehr hohen Werten die Einnahme von Medikamenten empfehlen“, sagt Prof. Martin Halle vom TUM-Lehrstuhl für Präventive und Rehabilitative Sportmedizin. „Wichtig ist, dass die Menschen so die Sicherheit bekommen, dass ihre Gesundheit nicht in Gefahr ist, wenn sie sich auf den Weg machen.“ Sollten sie unterwegs doch einmal Hilfe brauchen oder registriert das System bedrohliche Werte, soll über das Healthphone ein Notfalldienst verständigt werden. Dieser könnte auch einspringen, falls die Einkaufstüten zu schwer geworden sind oder wenn man im S-Bahnnetz die Orientierung verloren hat.

In der Regel soll allerdings das Smartphone die Routen berechnen und den Weg weisen. Mit Augmented-Reality-Technik hilft es den Nutzern zudem, die anderen Hilfsmittel zu bedienen. „Sie können etwa mit dem Smartphone das Auto betrachten und bekommen eingeblendet, wie es funktioniert“, erklärt Thomas Bock.

Mit Probanden werden die Forscher in den nächsten Monaten in München und Umgebung verschiedene Szenarien testen. Ein Schwerpunkt wird dabei die Mobilität auf dem Land sein, wo das Netz des öffentlichen Nahverkehrs weniger dicht ist. Die Entwickler stehen noch vor einigen Herausforderungen: Wie kann gewährleistet werden, dass die Nutzer problemlos auf ein Car-Sharing-Auto zugreifen können? Wie muss das Healthphone gestaltet werden, damit ältere Menschen es bedienen können? Zudem wollen die Projektpartner Geschäftsmodelle entwickeln. Angebote wie das Car-Sharing und den Notfalldienst sollen später Dienstleister übernehmen. „Die Nutzer können sich dann aus den einzelnen Komponenten ein auf sie und ihr Zuhause zugeschnittenes Assistenzsystem zusammenstellen“, sagt Bock.

Das Projekt hat ein Gesamtvolumen von 3,9 Millionen Euro. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung übernimmt rund zwei Millionen Euro als Beitrag zur Demografiestrategie der Bundesregierung. Davon geht rund eine Million an die drei beteiligten Lehrstühle der TUM. Weitere Projektpartner sind: Citysax Mobility GmbH, F. G. Streifeneder KG, Haag-Rehatechnik GmbH & Co. KG, Heidelberg Medical Marketing GmbH, Humanwissenschaftliches Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München, metaio GmbH, SOPHIA mit P.S. Südbayern gGmbH, Sunrise Medical GmbH.